THOMAS BAUERMEISTER über den Film "Tausend Kraniche musst du falten" (1991)

Verfasst am 17. Dezember 2018 16:45

THOMAS BAUERMEISTER über den Film "Tausend Kraniche musst du falten"
Filmdiskussion im Kino “Nassau-Lichtspiele” in Haiger (April 1993)

Foto: imdb
Moderatorin: Ich freue mich ganz herzlich, sie hier begrüßen zu dürfen und bin froh, dass trotz des schönen Wetters einige Interessierte in unser Kino gefunden haben. Es war bestimmt nicht leicht den Grillabend abzusagen, um solch einen Film mit solch einem schweren Thema sich anzusehen. Denn ich habe gemerkt, dass zwar dieses Thema uns alle angeht, doch nicht viele sich damit beschäftigen wollen.
 
Bauermeister: Ja, das habe ich auch schon gemerkt. Wer will heute bei den vielen Schreckensmeldungen, die jeden Tag in den Nachrichten vorkommen, noch einen Film über Kinder von Tschernobyl sehen. Man sagt sich : “Überall auf der Erde sind Menschen in Not– die Menschen von Tschernobyl sind nur ein paar davon.” (...)
 
Zuschauer: Gab es eigentlich große Schwierigkeiten, dort zu drehen ? Es war ja bekannt, dass die Behörden die Vorgänge in Tschernobyl vertuschen wollten. Wurden sie beim Drehen behindert ?
 
Bauermeister: Nein, überhaupt nicht. Und das hat mich auch überrascht. Die Behörden haben uns alles machen lassen, egal wo wir gedreht haben. Selbst Archivmaterial vom Unglück, von den Löscharbeiten usw. wurde uns zur Verfügung gestellt. 
 
Zuschauer: Hatten sie nicht bedenken um ihre Gesundheit ? Die Strahlung ist dort doch immer noch sehr hoch?
 
Bauermeister: Das ist wahr. Aber wenn man sich nur für einen bestimmten Zeitraum dort aufhält, kann eigentlich nichts geschehen. Wir mussten nur darauf achten, was wir aßen. Wir wurden nämlich sehr oft auch zum Essen eingeladen und diese Menschen ernähren sich zum größten Teil von verstrahlter Nahrung, da sie sonst nichts anderes haben. Durch diese gesundheitlichen Bedenken ist mir übrigens kurz vor Beginn der Dreharbeiten der Kameramann abgesprungen. Er hatte mir abgesagt mit einigen nicht gerade nachvollziehbaren Erklärungen -da gesundheitlich wirklich kaum etwas in der kurzen Aufenthaltszeit passieren konnte. Doch er hatte einfach Angst, was irgendwo auch verständlich ist.
 
Zuschauer: Ich verstehe nicht, warum das Projekt einer neuen Siedlung, weit außerhalb des verstrahlten Gebietes nicht richtig angenommen wurde?
 
Bauermeister: Nun, zum einen besteht die Vorstellung eines schönen Zuhauses, bei den Russen, vornehmlich aus einer günstigen Hochhausmietwohnung, ohne Land, aber mit fließendem Wasser und einer Toilette im Flur. Zum anderen verlassen sie nicht sehr gern ihre Heimat und besonders die alten Leute haben nicht mehr die Kraft für solch eine Veränderung. Und die Kinder selbst, verstehen noch gar nicht, warum sie weg müssen. In der verstrahlten Zone, in den Städten, wird übrigens auch wieder gebaut. Arme Familien aus anderen Gebieten der Sowjet-Union rücken nach, wenn irgendwo etwas frei wird. Vielleicht, weil es dort noch billiger zu leben ist, riskieren sie ihre Gesundheit.
 
Zuschauer: Sie unterstützen mit diesem Film einige Projekte. Können sie darüber etwas erzählen?
 
Bauermeister: Ja, sie sind nach dieser Veranstaltung herzlich dazu eingeladen, eine Spende abzugeben. Damit soll eine Fabrik gebaut werden, die strahlenfreie Nahrung produzieren kann. Aber es bedarf noch an viel mehr Hilfe, die u.a. von der “oppositionellen Bürgerbewegung” durchgeführt wird. Zum Beispiel die Umsiedlungsprojekte, Kindererholung in Deutschland. Deutschland ist sowieso eines der wenigen Ländern, das überhaupt hilft.
 
Zuschauer: Sie haben vorhin erzählt, dass die Kinder meist gar nicht wissen, was geschehen ist. Wie sieht es da mit den Erwachsenen aus. Wie viel wissen sie inzwischen? Wie viel hat ihnen die Regierung erzählt?
 
Bauermeister: Ja, die Bevölkerung weiß zwar nun Bescheid, was geschehen ist, doch mit den Konsequenzen werden sie absolut allein gelassen. Sie haben sich auf dieses neue “verseuchte” Leben eingestellt. Es ist ihnen egal, ob die Nahrung verstrahlt ist. Sie haben sich damit abgefunden. Die eine Frau im Film verband das ja mit dem politischen System in der UdSSR, in dem die Bevölkerung einfach abgestumpft worden ist, jede Veränderung einfach hinnahm. Sie fühlen sich auch vergessen und betrogen von dem Rest der Welt. Aber am deutlichsten wird dieser Zustand und das was nach dem Unfall an Betrügereien an der Bevölkerung verbrochen wurde, an einer Geschichte, die mir dort in Russland erzählt wurde. Ich weiß nicht ob sie stimmt, aber ich erzähle sie einfach mal. Es passierte ein paar Tage nach dem Tschernobyl-Unglück! Ein Regierungsbeamter hatte die Order bekommen, die Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet zu informieren. Doch es war ja die Zeit des Vertuschens. Es durfte nicht das wahre Ausmaß bekannt werden. So berichtete der Regierungsbeamte, dass alles in Ordnung sei, doch wie auch der alte Mann im Film berichtete, wurde woanders das verseuchte Vieh beschlagnahmt. Jedenfalls führte er seinen Auftrag so schnell wie möglich durch und ging dann sofort zurück zu seinem Hubschrauber, der ihn gebracht hatte. Dort wechselte er seine ganze Kleidung, also wirklich alles, was verseucht sein konnte, zog er aus und verschwand. Nach der Erzählung zufolge, sollen noch heute seine Schuhe an der Landestelle stehen. 
 
Zuschauer: Warum heißt der Film “ Tausend Kraniche musst du falten ”- Ein Film für die Kinder von Tschernobyl”?
 
Bauermeister: Dieser Titel geht zurück auf ein Märchen. (...) Es geht darum, zu zeigen, wie lange diese Strahlung und damit dieses Elend dauern wird, wie lange diese Kinder ihre Schmerzen ertragen müssen. Eben solange bis tausend Papier-Kraniche gefaltet sind. Denn die Kinder leiden am meisten an den Folgen der Katastrophe. Sie wissen meist gar nicht, warum sie diese Kopfschmerzen haben. Sie dürfen nicht mehr hinausgehen, und in den Feldern spielen. Man möchte ihnen am liebsten sagen : Hört auf zu wachsen! Denn dadurch, dass sich ihre Zellen noch häufiger Teilen, sind sie anfälliger für die Krankheiten wie Tschernobyl-AIDS, Leukämie und Schilddrüsenkrebs.
Der Film TAUSEND KRANICHE MUßT DU FALTEN wurde 1992 mit dem Hessischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.